AM26 – Brief an Walter Gropius
Toblach, Samstag, 27. August 1910
Samstag
Schnell bevor ich an mein Tageswerk gehe – ein Gruß an Dich – Du Meiner. Der Artikel in der Zukunft ist sehr lieb, umso mehr, als immer abgelehnt hat. Wenn Du eine Ahnung hättest, wie ich Dich liebe – mir mir Dein Wesen nahe ist, wie ich alles Schöne, Noble und Gute an Dir verstehe – – schlackenrein – Du wärest selig u. vertrauensvoll für die Zukunft.
Mein – von Dir will ich ein Kind – und will es hegen und pflegen – wie der Tag erscheint – an dem wir ohne Reue – mit Sicherheit und Ruhe – uns lächelnd und für immer in die Arme sinken. Schreibe mir, – ob das heute Dein Wunsch noch ebenso stark ist, wie vor einem Monat. Willst Du mich? Und brauchst Du mich!!?? —
Dein Weib –
[in der Handschrift von :] 27.8.10. Abends.
Mein . Heute will ich Dir mit Ruhe alle Deine Fragen beantworten. Ich gehe wahrscheinlich mit nach America. sagt, er kann nicht einen Tag ohne mich leben – so muss ich mit. Wie es mir geht!? Merkwürdig gut. Ich werde Dir später sagen, was ich heute geleistet habe. D
Direkt schreibe alle 8 Tage \p.[oste] r.[estante] wenn Du willst[,] täglich/ – aber zu meinem Geburtstag schreibe direct. – Die chinesische Jacke will ich haben – und ich werde sie lieben, weil Du sie besessen hast – und in Deinen geliebten Händen gehalten hast. Küsse sie am Hals – so will ich’s thun –
und schicke sie am Freitag[,] den 2[.] September von Berlin ab, – reist am 3. von hier ab – ich am 5ten. Auf jeden Fall an Frau p[oste] r.[estante] ad. etc[.] – Die andern Kleinigkeiten sende direct ab für den 31ten an Frau . Wie wahnsinnig freue ich mich auf das Liebe – kein Krösus der Welt könnte mir mehr Freude machen. –
Ich liebe Dich. –
Hast Du es nun nicht zu oft gehört? – —
ist gestern Mittag nach Leyden gereist –
er hatte dringend dort zu thun und unser Arzt hat ihn reisefähig gemacht. Er telegraphirt mir fast stündlich. Aus Innsbruck hat er t[elegrafiert]: „alle guten und boesen Mächte begleiten mich – über allen thront die Siegerin – gute Nacht mein Saitenspiel – ich fühle nur Sehnsucht.“ – – und ich fürchten oft für seinen Verstand, denn diese abgöttische Liebe und Verehrung – die er mir jetzt zollt – ist kaum mehr normal zu nennen. Ich wollte Dich bitten, – Dich immer „dumm“ zu stellen, sobald
das Gespräch \irgendwo/ auf uns kommt – man kennt zu sehr und jeder Tratsch ist eckelhaft u. vergemeint die edelsten Empfindungen. – Über München werde ich klar schreiben, sobald ich selber klar bin. Heute haben wir eine große Partie gemacht. 2000 m hoch Plätzwiesen – Herrlichster Fleck. Ich bin aus dem Wagen gestiegen und 2 1/2 Stunden gegangen. – Wir waren mit den Kindern und unserm Arzt – der hier u. da meinen Puls fühlte und ganz paff war, wie gut ich alles vertrug. – Ich glaube an meinem Organismus bemerkt zu haben, dass für das Herz
und alle andern Organe – nichts schlechter ist – als erzwungene Askese. – Ich meine nicht nur die Sinnenlust damit, deren Entbehren, mich K vorzeitig fast zur weltfremden – resignirten, alten Frau gemacht haben [!], sondern auch das fortwärende Ruhen für meinen Körper. Ich bin heute stark gestiegen und es hat mir direkt gut gethan. —
Jetzt liege ich im Bett. Mein [!] 2 3armigen Empireleuchten brennen – und ich bin bei Dir, so intensif, dass
Du mich \mich/ fühlen musst. – Ich habe immer eine große Freude an Dir. Deine edle Art lässt Dich so wohl verstehen und schätzen und da Du bar aller Kleinheit bist, sagst Du es mir so frei u. offen – Du bist mir dadurch 1000 mal mehr noch geworden. Du hast ja auch so allen Grund ruhig und sicher zu sein, denn wer Dich einmal geliebt hat, Deine Liebe gefunden hat, der kann nie mehr eine Sehnsucht nach einem andern Mann fühlen, – weil Du das Schönste[,] Liebste, Süßeste bist, das meine Augen noch gesehen haben.
[linker Rand:] Und Deine Noblesse vollends machen [!] Dich zum Gottsohn. Du – meiner. — Deine
Apparat
Überlieferung
, , , , , , , .
Quellenbeschreibung
4 Bl. (8 b. S.) – Briefpapier, Blattzählung AMs (Editionsrichtlinien) (, , ).
Beilagen
Umschlag, , – Neubabelsberg bei Berlin | Stahnsdorferstraße 83 | Herrn Walter Gropius; PSt. (lt. 2012, S. 531, Nr. 112): TOBLACH 2 | 28 | 8 | 1 N | 10 | c; roter Aufkleber: „Durch Eilboten. Exprès“ (); frankiert mit 20 (statt 30) Heller; von WG mit einer 13. versehen (Zur Nummerierung von Alma Mahlers Briefumschlägen); fremdschr. Datierungsversuch nach Übergabe an : „Toblach 28.8 (1910)“; rückseitig: WG60.
Druck
, S. 102f., bei Anm. 126 und 128 (Auszüge), , S. 113, bei und in Anm. 94 und S. 115, bei Anm. 105 sowie , S. 47, bei und in Anm. 139, S. 49, bei Anm. 150 (jeweils Auszüge), , S. 880, bei Anm. 259 (Auszug), S. 883, bei Anm. 273 (partielle Inhaltsangabe), S. 905, bei Anm. 383 (Auszug) und S. 925f., bei Anm. 478 (längerer Auszug in engl., teils lückenhafter Übersetzung), , S. 28, bei Anm. 56 und S. 29, bei Anm. 60 (Auszüge) und , S. 28, bei Anm. 56 und S. 29, bei Anm. 60 (Auszüge in engl. Übersetzung).
Korrespondenzstellen
Beantwortet durch WG61 vom 1. September 1910, abends (Wann mußt \willst/ Du fort nach drüben?): Heute will ich Dir mit Ruhe alle Deine Fragen beantworten. Ich gehe wahrscheinlich mit nach America, WG62 vom 1. September 1910, abends (Die chines.[esische] Jacke sende ich Dir also am 2.): Die chinesische Jacke will ich haben […] schicke sie am Freitag[,] den 2[.] September von Berlin ab und WG64 vom 2. September 1910 (Nur sinnliche Leidenschaft? nach langem Entbehren): Ich meine nicht nur die Sinnenlust damit, deren Entbehren, mich […] zur weltfremden – resignirten, alten Frau gemacht haben.
Datierung
Das erste Blatt ( und ) des vorliegenden Briefes lag bei Übergabe an das lose mitten im Konvolut und nicht im Umschlag mit den übrigen drei von AM durchnummerierten Blättern. Es wurde jedoch so zugeschnitten, dass es exakt in die einmal mittig gefalteten übrigen Blätter eingelegt werden kann. AM berichtete vom Artikel in der Zukunft, den sie am Dienstag, den 23. August 1910 von WG erbeten hatte (AM24). Es ist sehr wahrscheinlich, dass WG ihr diesen zeitnah zugesandt hatte, so dass sie am darauffolgenden Samstag, 27. August im vorliegenden Brief darauf eingehen konnte.
Der Zusatz 27.8.10. Abends, von WG auf das erste der durchnummerierten Blätter geschrieben und ehemals als Empfangsdatum gelesen (s. unten), lässt auch daher ebenfalls auf eben dieses Schreibdatum schließen: 27. August 1910. Diesen Tag folgerte WG aus dem offensichtlich morgens geschriebenen und eingelegten Einzelblatt, nachdem er AM26 erst kurz nach Verfassen von WG59 (31. August und 1. September 1910) am 1. September, nachmittags oder abends empfangen hatte. Der verspätete Empfang (wahrscheinlich aufgrund von zu geringer Frankierung der Eilsendung mit 20 statt 30 Heller, s. Porto) wird durch WGs dreimalige und zueinander stimmige Beschwerde in WG59, seit mehreren Tagen keinen Brief mehr von AM erhalten zu haben, begründet: Es ist 4 Tage her, daß Dein letzter Brief kam […] Es ist 5 Tage her, daß Du schriebst […] der 6. Tag! Dies entspricht einer Durststrecke vom 27. August bis 1. September nachmittags und belegt wiederum, dass WGs Zusatz 27.8.10. Abends nicht das Empfangsdatum sein kann. Der zuletzt von WG empfangene Brief war wahrscheinlich AM25 vom 24. August (Abends – im Bett. Mittwoch). Teile des Poststempels auf dem Umschlag von AM25 sind zwar verloren, ein Absenden am darauffolgenden Tag, 25. August, jedoch wahrscheinlich. Die Abstempelung am Abend („A“) von AM25 hätte einer Zustellung am darauffolgenden Tag, am späten 26. August, nicht im Wege gestanden (s. Postlaufzeiten), weist dennoch eher auf einen Empfang erst am 27. August 1910 tagsüber hin.
Bisherige Datierungen in der Literatur (nur bezogen auf den ersten Teil, Inv.-Nr. , ):
Schreibdatum: „19. Sept. 1910“ (, S. 448, Anm. 128).
Bisherige Datierungen in der Literatur (nur bezogen auf den zweiten Teil, Inv.-Nr. , , , , , ):
Schreibdatum: „Wien [!], 27. Aug. 1910“ (, S. 448, Anm. 126), „[26.8.1910]“ (, S. 113, Anm. 94 und S. 115, Anm. 105 sowie , S. 47, Anm. 139, S. 49, Anm. 150 und S. 309), Übernahme dieser Datierung bei , S. 883, Anm. 273 und S. 905, Anm. 383.
Absendedatum: „[Toblach, 28. August 1910]“ (, S. 28, Anm. 56 und S. 29, Anm. 60) und „[Toblach, 28 August 1910]“ (, S. 28, Anm. 56 und S. 29, Anm. 60).
Empfangsdatum: irrtümlich „empfangen ‚27.8.10. Abends.‘“ (, S. 113, Anm. 94 und S. 115, Anm. 105 sowie , S. 47, Anm. 139, S. 49, Anm. 150 und S. 309), irrtümlich „postmarked [!] at arrival in Berlin [!], 27 Aug.“ (, S. 880, Anm. 259), irrtümlich „26 Aug., postmarked [!] as having reached Berlin [!] the next day“ (, S. 905, Anm. 383).
Übertragung/Mitarbeit
(Manuel Tietz)
(Bettina Schuster)
Artikel in der Zukunft – s. AM24 vom 23. August 1910: Artikel aus der Zukunft.
Bahr – , österreichischer Schriftsteller.
27.8.10. Abends. – s. Datierung.
Deine Fragen – bezüglich den USA, s. WG50 vom 22. oder 23. August 1910 bis WG54 vom frühestens 24. August 1910.
Geburtstag – 31. August.
chinesische Jacke – s. auch WG62 vom 1. September 1910.
Gustav reist am 3. von hier ab – ich am 5ten. – nach München zur Uraufführung der von am 12. September 1910, vgl. AM32 vom 6. September 1910.
Gustav ist gestern Mittag nach Leyden gereist – hatte bereits am 25. August 1910 erstmals von Franzensfeste aus telegraphiert ( Nr. 330, S. 449), und kam am 26. August in Leiden in den Niederlanden an ( Nr. 334, S. 451). sollte dort den Psychoanalytiker aufsuchen (, S. 46–49 und , S. 885f.).
Arzt – s. AM24 vom 23. August 1910: Unser Freund[,] der Arzt (den Du sahst).
Im Original: „alle guten und boesen maechte beglejten mich[,] ueber allen thront die siegerin[,] gute nacht mein saitenspiel[,] ich fuehle nur glueck und sehnsucht“ (Telegramm aus Innsbruck von an vom 25. August 1910, 6.35 Uhr, Nr. 331, S. 450).
Plätzwiesen – Plätzwiese, Hochalm in den Pragser Dolomiten, südlich von Toblach.
Kindern – und wahrscheinlich , Tochter von und .